3 Jahre Wald
Flucht in die Transformation
Michael Wulf
Leseprobe
Flucht aus der Stadt
Keine zehn Minuten dauerte es, bis ich mit Schlafsack und Rucksack die Treppen runterstampfte, um der Respektlosigkeit zu entfliehen. Der Wald, er ruft nach mir.
Der Knall der zugeschlagenen Haustür hinter mir hallt zwischen den engen Mauern der kalten Stadt. Mit eingezogenem Kopf schreite ich durch die harten Straßen. Endlich verlässt meine Sohle den starren Teer und das dumpfe Klacken der Kieselsteine auf dem breiten Waldweg verhallt in den Weiten des Waldes. Ich richte meinen Kopf hoch. Mit jedem Schritt strahlt es mir grüner, heller entgegen und dazu der Klang der Natur. Warme Wellen rauschen durch die grünen Blätter der Eichen und Buchen hindurch und kleine Vögel flattern von Ast zu Ast. Hier ein Piep und da ein Piep.
Ein bisschen Erholung und ein sanftes Piep, das ist alles, was ich will. Kein ständiges Staubsauger-"sss", kein schrilles „Komm sofort her!“. Ich musste raus aus diesen Mauern, raus aus dem Stress der Stadt. Wohin? Egal, einfach rein in die Wildnis.
Ich wechsle den Weg und wandere auf einem versteckten Wildpfad. Die Bäume hier sind beeindruckend, riesige Tannen strecken sich in den Himmel. Der Wald wird dichter und dichter und der süßliche Duft von Harz liegt in der Luft. Ich folge der Fährte der Tiere auf dem weichen Waldboden mit vielen Pfotenabdrücken, spähe in den Wald hinein, erahne das Abenteuer vor mir, rieche feuchtes Moos und schiebe blätterverhangene Äste beiseite. Da entfaltet sich ein Bild vom Himmel auf Erden vor mir:
Ein grünes Tal mit einem kleinen Bächlein liegt vor mir. In der Mitte ein Baum, hellgrün belaubt, über einer Wasserquelle, die leise vor sich hin plätschert. Das Wasser schlängelt sich durch Moos und Schilf. Sonnenstrahlen funkeln auf der Oberfläche und strahlen in meine Augen bis tief in das Herz hinein, wo wir als Kinder fröhlich am Ufer hüpften und Steine ins Wasser warfen. Helles Kinderlachen hallt in das Tal hinein.
Ich ziehe den Schlafsack aus dem Rucksack und ebne ihn direkt neben der Wasserquelle, wo das Wasser seine Reise beginnt. Ich schlüpfe in das Waldbett hinein und lasse mich mit ausgestreckten Armen nach hinten fallen, atme tief aus und spreize die Finger in den weichen Waldboden hinein. Tief atme ich die frische Waldluft in den Bauch ein. Endlich Stille, endlich Frieden. Kein Staubsauger weit und breit, kein Mensch, der stört, nur das sanfte Plätschern der Wasserquelle. Meine Schultern schmiegen sich an den Waldboden und alle Muskeln werden weich und Kribbeln breitet sich in Wellen unter meiner Haut aus, als würden winzige Funken darauf tanzen. Genau hier möchte ich die Nacht verbringen, an der Wasserquelle, unter den Baumkronen – auch wenn ich keine schützenden Mauern und kein schützendes Dach habe, oder vielleicht genau deswegen?
Das Tal der Befreiung
Als ich am nächsten Morgen aus dem tiefen Schlaf aufwache, sind die Vögel bereits quicklebendig, fliegen von Ast zu Ast und piepsen in den schönen Sommertag hinein. Ich richte den Körper auf und blicke dem fließenden Bächlein nach.
Wie bezaubernd der Wald am Morgen doch ist und wie lebendig und friedlich zugleich, so hell, ganz im Gegenteil zu den gehetzten Menschen, die einem jeden Zauber rauben, so dunkel. Am liebsten würde ich hier immer schlafen.
… immer hier schlafen ...
Und da macht es auf einmal "Klick", der Knoten ist geplatzt. Die Augen weiten sich, als würde die Klarheit den Nebel verdrängen und das Licht im Tal verstärken.
Habe ich meinen Pfad der Befreiung gefunden? Ja, ich kann tatsächlich immer hier schlafen.
Ein überwältigendes Gefühl der Freiheit durchflutet mich, als würde der Wald mich in seine Arme schließen, warmherzig und willkommen - so kraftvoll, dass alle Fesseln abfallen und meine Seele sich befreit. Ich spüre eine Leichtigkeit, die ich nicht kenne, aber so unbeschwert und wahr ist, dass ich ihr folgen will. Eine Ahnung, ein Ruf, der mein Leben für immer verändern würde. Ein heller Schein liegt über dem Tal, der mich verfängt. Ich fasse in die Hosentasche, nehme das Handy zur Hand und tippe eine verhängnisvolle Nachricht an meine tolle Vermieterin:
„Ich möchte zum nächstmöglichen Zeitpunkt mein Mietverhältnis kündigen. Reicht das so per Handy oder brauchst du es noch auf Papier mit Unterschrift? Viele Grüße“
Soll ich ‘Viele Grüße’ oder ‘Liebe Grüße’ schreiben? Beides wäre zu viel – es muss authentisch und diplomatisch klingen. Ich entscheide mich für „Einen lieben Gruß“, wobei mir “Ein letzter Gruß” lieber wäre.
Mein Herz klopft schneller und mein Daumen flattert über den Senden-Button hin und her. Ich schaue über das Display hervor und blicke tief in den Wald hinein.
Wenn ich jetzt drücke, gibt es kein Zurück mehr. Noch habe ich ein bisschen Geld und es ist Sommer. Aber was, wenn der kalte Winter kommt und das Geld weg ist?
Der Daumen zittert über den finalen Klick, meine Augen huschen hin und her und suchen Halt in der Stille des Waldes. Schließlich ist es nicht nur ein Wohnortwechsel, sondern auch ein Sprung in eine völlig neue Welt.
Eine wilde Welt, aber ruhiger und friedlicher als die Stadt.
Die Neugier kitzelt, die Abenteuerlust erwacht, aber auch der Respekt vor der gewaltigen Herausforderung.
Der Weg wird nicht leicht, wird steil und steinig. Aber ich liebe es, den Berg hinauf zu stapfen, liebe es, schwere Steine zu hieven und mit einem weiten Wurf ins tiefe Wasser zu versenken.
Ich schließe die Augen, höre die Wasserquelle leise plätschern, ich fahre mit der Hand über den kühlen Tau auf dem Schilf, atme den erdigen Duft ein und lasse die Warmherzigkeit des Waldes in mich einfließen.
Noch nie gab mir die Stadt so ein schönes Gefühl.
Augen auf: Und senden!
Prüfung der Wildnis
Ein Gefühl der neu gewonnenen Freiheit breitet sich in mir aus, doch sogleich meldet sich die Frage: Wo soll ich schlafen? Die feuchte Quelle taugt kaum als Dauercamper-Lösung, mein Schlafsack ist schon ganz klamm. Ich laufe das Tal ab, was etwa 30 Schritte lang und 5 bis 10 Schritte breit misst und überwiegend mit Moos bewachsen ist. Anschließend klettere ich den Hang hinauf und überblicke das Tal. Genug Platz für...? Was eigentlich?
Bevor mehr Fragen mein Hirn stürmen, mache ich mich auf die Suche nach einem Schlafplatz. Spähend unter Sträuchern und Bäumen, suche ich nach einem trockenen Plätzchen, finde jedoch nur unebene Flächen und unbekannte Beeren. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen: Was, wenn ich hier nicht überleben kann?
Ich schüttle den Gedanken ab – Konzentration! Noch habe ich ja etwas Geld, doch was, wenn es alle ist, was werde ich dann essen? Pfifferlinge, Rießenschirm Pilz – die kenne ich. Doch diese fremden Beeren? Giftig oder essbar? Keine Ahnung. Mein Opa würde lachen: "Blumensträuße pflücken bringt dich hier nicht weit, mein Junge." Ich bin nicht gerade ein Survival-Experte. Das Einzige, was mich zu einem guten Survivor macht, ist, dass ich eine ziemlich große Nase habe und daher auch viel Luft mit einem Atemzug bekomme.
Doch dann, ein Lichtblick:
Brennnesseln! Pickst auf der Zunge, ein interessanter Geschmack, rau und wild und schmeckt irgendwie nach… ja so schmeckt pieksiges dunkelgrün.
Ein Ruck fährt durch meinen Körper.
Habe ich eigentlich ein- oder dreimonatige Kündigungsfrist? Keine Ahnung, wie es hier in der Schweiz gehandhabt wird. Was, wenn ich drei Monate warten muss? Dann ist mein ganzes Geld schnell weg. Und was mache ich mit meinen Schulden? Drohbriefe, Angst vor dem Postboten... Was soll ich tun? Die Schulden kann ich nicht einfach so leicht kündigen wie die Wohnung. Aber eine schöne Vorstellung: Guten Tag, meine sehr verehrten Gläubiger, hiermit kündige ich meine Schulden zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Bitte teilen Sie mir mit, wann dieser Zeitpunkt kommt. Antwort: Bei Ihrem Tod!
Plötzlich raschelt es laut hinter ein paar Sträuchern. Mit aufgerissenen Augen suche ich hastig die umliegenden Sträucher ab. Ich will mich gerade ducken, da fliegen ein paar Vögel haarscharf über meinem Kopf hinweg. Zum Glück nur ein paar Amseln. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Endlich ein Lebewesen, das ich mit Sicherheit benennen kann.
Und was sehe ich denn da neben den Sträuchern?! Eine Ansammlung aus kleineren Tannen, die im Kreis stehen. Ich krieche auf allen Vieren unter den grünen Ästen hindurch und lege mich in die Mitte der Tannen. Der Boden ist einigermaßen gerade, etwas abschüssig, aber gerade lang genug, dass mein großer Körper von 167,5 cm darin Platz findet. Ich krieche aus der Tannenzelt heraus, hole meinen Schlafsack, breite ihn aus und schmiege mich in mein neues Naturbett. Ich schließe die Augen und atme erleichtert aus. Ich spüre die Erde unter meinem Rücken und der süßliche Harzduft der Tannen umschließt mein Gemüt.
Was werden wohl die Menschen über mich denken, wenn sie erfahren, dass ich jetzt im Wald wohne?
Die Mission
Meine Hosentasche vibriert, ein unheilvolles Summen. Die Antwort der Vermieterin? Mit zittrigen Händen ziehe ich das Handy aus der Hosentasche.
Kein Empfang. Verdammt.
Ich krieche aus meiner Höhle und laufe das Tal hinauf. Endlich ein Balken.
Was wird mein Sohn darüber denken? Wird er denken, ich sei ein Obdachloser? Ne, ich sag ihm einfach: Ich bin kein Obdachloser, ich bin ein Wald-Penner.
Die Nachricht lädt. Ich halte den Atem an, nur das Rauschen der Tannen im Wind ist zu hören, während ich zögere, die Nachricht zu öffnen. Bin ich ein oder noch drei Monate an die Wohnung gefesselt? Mit einem Ruck öffne ich die Nachricht:
„Du kannst noch bis zum 30.05.2016 hier wohnen, dann musst du draußen sein. Viele Grüße“
Yes, nur einen Monat! Ein bisschen Geld für den Anfang – das reicht.
Ich tanze im Kreis und schnalze mit der Zunge. Schwere und kalte Steine fallen mir aus dem Herzen zu Boden – Steine, mit denen sonst meterhohe Mauern gebaut werden.
Jetzt bin ich endlich frei! Und ich werde keinen einzigen Tag mehr in der alten Welt verbringen. Ab heute gehört mein Leben der Freiheit im Wald.
Ich springe, juble und feiere die neugewonnene Freiheit, blicke in das neugewonnene Himmelreich auf Erden, doch auf einmal stolpere ich über eine Wurzel und schramme mit dem Gesicht am rauen Stamm einer großen Tanne vorbei. Ich bin kurz irritiert, lasse mich aber nicht von einem kleinen Kratzer die Laune verderben. Denn vor mir liegt ein Leben ohne Hamsterrad: ohne hop, hop, mach schnell! Ohne los arbeiten-arbeiten-arbeiten! Dann los bezahlen! Rechnung, Rechnung, Rechnung…und ich brülle wie ein Löwe:
„Tschüss, Stress! Adieu, Alltag! Auf Nimmerwiedersehen, Staubsauger!“, oder vielleicht heule ich eher wie ein Wolf oder piepse wie eine Maus, die Angst vor einem Staubsauger hat.
Nach dem ganzen Auf und Ab spüre ich, wie trocken meine Kehle ist. Ich gehe hinunter zur Quelle. Wieder huscht ein Lächeln auf mein Gesicht beim Anblick auf die Quelle. Ich habe ja immer Wasser parat, ein Punkt weniger auf meiner Survival-Liste. Ich stille meinen Durst, das Wasser schmeckt weich und frisch, fließt kühlend den Rachen hinunter. Auch das Wetter meint es gut mit mir und die Sonnenstrahlen fallen auf den Grund des Beckens der Quelle, wo das Katzengold der vielen Kieselsteine durch das Wasser funkelt, als sei es lebendig. Im nächsten Augenblick fällt ein Tropfen Blut ins Wasser, und noch einer. Verwundert fasse ich an die Wange. Meine Finger voller Blut. Doch mehr als nur ein kleiner Kratzer. Weitere Blutstropfen kullern die Wange runter, Plitsch, Platsch, fallen sie ins Wasser. Ich hebe den Kopf, der Blick folgt dem Lauf des Baches hinterher, der bis in die Stadt fließt.
Dort draußen, die Stadt, mit Stadtmenschen – eine bedrohliche Strömung. Ich ersticke in ihr, ertrinke in dieser rauen See. Zu viele Zwänge, zu viel Druck. Scham und Schuld, Gier und Geiz, Angst und Hass – die quälenden Emotionen der Menschen, ein schwarzes Loch, das mich zu verschlingen droht. Immer wieder habe Menschen vertraut, geliebt, immer wieder wurde ich enttäuscht, bin allein in dunkler Nacht.
Ich senke den Blick, starre auf das Wasser vor mir. Auch ich trage Fehler in mir, ein schmerzhaftes Gewicht. Die Last drückt schwer auf mir, meine eigene und die Last von den Menschen da draußen, Tag für Tag, Jahr um Jahr…
Ich muss was tun, jetzt, bevor die Menschen erdrückt werden.
Also fasse ich einen schicksalhaften Entschluss, der den Rest meines Lebens bestimmen wird.
Ich kehre nicht zurück. Nicht eher, bis ich die Quelle des Teufels gefunden habe und die Befreiung bringe – für mich und für alle Menschen!
Coming Soon…
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